BVerfG: Bindungswirkung der Entscheidungen des EMGR

1. Zur Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ können gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.

2. Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwendung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei dem einschlägigen nationalen Recht um ein ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 30. Juni 2004 – 14 WF 64/04 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an einen anderen Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

A.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem die aus seiner Sicht mangelhafte Umsetzung des in seiner Sache ergangenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 26. Februar 2004 sowie die Missachtung von Völkerrecht durch das Oberlandesgericht Naumburg.

I.

1. a) Der Beschwerdeführer ist der Vater des am 25. August 1999 nichtehelich geborenen Kindes Christofer. Die Kindesmutter, die den Beschwerdeführer gegenüber den Behörden zunächst nicht als Vater benannte, gab den Jungen einen Tag nach der Geburt zur Adoption frei und erklärte erstmals mit notarieller Urkunde vom 1. November 1999 ihre – am 24. September 2002 wiederholte – Einwilligung zur Adoption durch die Pflegeeltern. Bei diesen lebt der Junge seit dem 29. August 1999.

Der Beschwerdeführer erfuhr im Oktober 1999 von der Geburt des Kindes und der Adoptionsfreigabe; der Kontakt zur Kindesmutter war bereits im Juli 1999 abgebrochen. Daraufhin begann er, sich seinerseits um die Adoption seines Sohnes zu bemühen, was zunächst auf Schwierigkeiten stieß, weil seine Vaterschaft nicht anerkannt wurde. Die Vaterschaft wurde schließlich durch Urteil des Amtsgerichts Wittenberg vom 20. Juni 2000 festgestellt.

b) Mit Beschluss vom 9. März 2001 übertrug das Amtsgericht Wittenberg dem Beschwerdeführer antragsgemäß die alleinige elterliche Sorge für Christofer. Zuvor war es zu insgesamt vier Umgangskontakten zwischen dem Kind und dem Beschwerdeführer gekommen. Auf das Rechtsmittel der Pflegeeltern und des nach der Geburt zum Amtsvormund bestellten Jugendamtes Wittenberg wurde die Sorgerechtsentscheidung des Amtsgerichts durch Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 20. Juni 2001 aufgehoben und der Antrag des Beschwerdeführers auf Übertragung des Sorgerechts zurückgewiesen. Gleichzeitig schloss das Oberlandesgericht von Amts wegen das Umgangsrecht zwischen dem Beschwerdeführer und dem Jungen aus Gründen des Kindeswohls bis zum 30. Juni 2002 aus.

c) Die gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts erhobene Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wurde von der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit unbegründetem Beschluss vom 31. Juli 2001 – 1 BvR 1174/01 – nicht zur Entscheidung angenommen.

2. a) In der Zwischenzeit hatte der Beschwerdeführer beim Amtsgericht ein neues Verfahren auf Übertragung des Sorge- und Umgangsrechts anhängig gemacht. Er versuchte an sieben verschiedenen Terminen, Kontakt zu Christofer herzustellen. Diese Versuche seien erfolglos geblieben, weil die Pflegeeltern nicht zur Zusammenarbeit bereit oder abwesend gewesen seien. Zwei für Februar und Juli 2003 anberaumte Anhörungstermine vor dem Amtsgericht wurden aufgehoben. Daraufhin bestellte das Amtsgericht am 22. Juli 2003 eine Verfahrenspflegerin sowohl im Sorge- als auch im Umgangsrechtsverfahren.

Mit Beschluss vom 30. September 2003 wies das Oberlandesgericht Naumburg den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung des Umgangs wegen der nach Auffassung des Gerichts fortbestehenden Spannungen zwischen den Beteiligten und der unklaren Rechtslage ab.

b) Am 19. Januar 2001 war beim Amtsgericht Wittenberg der Antrag der Pflegeeltern auf Adoption von Christofer eingegangen. Das Jugendamt Wittenberg als Amtsvormund des Jungen hatte zuvor seine Zustimmung zur Adoption erteilt. Nachdem der Beschwerdeführer die Einwilligung in Christofers Adoption verweigert hatte, ersetzte das Amtsgericht durch Beschluss vom 28. Dezember 2001 seine fehlende Einwilligung. Am 30. Oktober 2002 wies das Vormundschaftsgericht beim Landgericht Dessau den Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Adoptionsverfahrens bis zur endgültigen Entscheidung im Sorge- und Umgangsrechtsverfahren ab. Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers hob das Oberlandesgericht Naumburg mit Beschluss vom 24. Juli 2003 die Entscheidung des Landgerichts auf. Das Oberlandesgericht lehnte zwar die Aussetzung des Adoptionsverfahrens bis zur Entscheidung in dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (dazu unter 3.) ab, wies in seiner Entscheidung aber darauf hin, dass die zuständigen innerstaatlichen Gerichte gegebenenfalls ein Urteil dieses Gerichtshofs zu berücksichtigen hätten. Stattdessen setzte es das Beschwerdeverfahren in dem Adoptionsverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung des mittlerweile ebenfalls beim Oberlandesgericht anhängigen, neuerlichen Sorgerechtsverfahrens aus.

3. a) Der Beschwerdeführer legte im September 2001 eine Individualbeschwerde nach Art. 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Er rügte insbesondere eine Verletzung von Art. 8 EMRK, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens schützt. Die Durchführung einer Zwangsadoption unter Missachtung der Rechte des leiblichen Vaters verstoße in eklatanter Weise gegen die Menschenwürde und das Grundrecht auf Familie. Er habe das Recht, seinen Sohn selbst zu erziehen.

b) Mit Urteil vom 26. Februar 2004 erklärte eine Kammer der Dritten Sektion des Gerichtshofs einstimmig, dass die Sorgerechtsentscheidung und der Ausschluss des Umgangsrechts eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellten. Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer auf der Grundlage von Art. 41 EMRK 15.000,– € Schadensersatz und 1.500,– € als Ersatz für Kosten und Auslagen zu (vgl. EGMR, No. 74969/01, Urteil vom 26. Februar 2004 – Görgülü).

aa) Im Hinblick auf das Sorgerecht verwies der Gerichtshof zunächst auf seine Rechtsprechung, wonach der Staat in Fällen, in denen nachweislich Familienbande zu einem Kind bestünden, so handeln müsse, dass diese Bande sich weiterentwickeln könnten. Daraus folge die Pflicht nach Art. 8 EMRK, auf die Zusammenführung eines leiblichen Elternteils mit seinem Kind hinzuwirken (EGMR, a.a.O., Ziffer 45 m.w.N.). Das Oberlandesgericht habe in Anbetracht der Tatsache, dass der Beschwerdeführer Christofers leiblicher Vater und unstreitig bereit und in der Lage sei, ihn zu betreuen, nicht alle möglichen Wege zur Lösung des Problems geprüft (EGMR, a.a.O., Ziffer 46).

bb) Im Hinblick auf das Umgangsrecht kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Gründe, auf die das Oberlandesgericht Naumburg seine Entscheidung, den Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind für die Dauer eines Jahres auszuschließen, gestützt habe, nicht ausreichend gewesen seien, um einen derart schweren Eingriff in das Familienleben des Beschwerdeführers zu rechtfertigen. Ungeachtet des Ermessensspielraums der innerstaatlichen Behörden sei der Eingriff daher in Bezug auf die rechtmäßig verfolgten Ziele nicht verhältnismäßig gewesen (EGMR, a.a.O., Ziffer 50). In der vorliegenden Rechtssache müsse dem Beschwerdeführer deshalb mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden (EGMR, a.a.O., Ziffer 64).

4. a) Daraufhin übertrug das Amtsgericht Wittenberg dem Beschwerdeführer mit Beschluss vom 19. März 2004 in dem Parallelverfahren zum Sorgerecht antragsgemäß die alleinige elterliche Sorge. Des Weiteren erließ das Amtsgericht von Amts wegen mit Beschluss vom selben Tag und unter Bezugnahme auf diese Sorgerechts-Entscheidung eine einstweilige Anordnung zum Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Sohn. Er erhielt das Recht, ab dem 3. April 2004 jeweils sonnabends für zwei Stunden – bis zum rechtskräftigen Abschluss des Sorgerechtsverfahrens – Umgang mit seinem Sohn zu haben.

b) Der Amtsvormund und die Verfahrenspflegerin des Kindes erhoben Beschwerde gegen den Umgangsrechts-Beschluss des Amtsgerichts. Das Oberlandesgericht Naumburg setzte zunächst mit Beschluss vom 30. März 2004 die einstweilige Anordnung außer Vollzug und hob diese mit weiterem Beschluss vom 30. Juni 2004 auf.

Eine Umgangsregelung könne nur auf Antrag getroffen werden. Da es an diesem konstitutiven Erfordernis gefehlt habe, entbehre die ohne Antrag erlassene Anordnung des Amtsgerichts ihrer prozessualen Grundlage. Dies gelte erst recht in Anbetracht des bereits im September 2003 zurückgewiesenen Eilantrags des Beschwerdeführers und der grundsätzlich unveränderten Fortgeltung der seinerzeit maßgeblichen Ablehnungsgründe. Die Gewährung des Umgangsrechts von Amts wegen sei generell ausgeschlossen und hätte allenfalls zum Wohle des Kindes, nicht aber im hier ausschließlich berührten Interesse des Kindesvaters angeordnet werden dürfen. Der Junge sei voll in die Pflegefamilie integriert und fühle sich dort offensichtlich wohl.

Die in zulässiger Weise angefochtene Anordnung des Amtsgerichts zum Umgangsrecht erweise sich auch in der Sache mangels Regelungsbedürfnis für eine nicht beantragte Eilmaßnahme nach rund eindreivierteljähriger Verfahrensdauer – auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Entscheidung des Gerichtshofs – als ungerechtfertigt.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung könne auch nicht mit der Entscheidung des Gerichtshofs gerechtfertigt werden. Zwar lasse sich der Entscheidung entnehmen, dass der im Juni 2001 angeordnete Ausschluss des Umgangs das Recht des Beschwerdeführers und Kindesvaters nach Art. 8 EMRK verletzt habe und dass – gemäß Ziffer 64 des Urteils – die Bundesrepublik Deutschland auf Grund ihrer Verpflichtung aus Art. 46 EMRK dem Beschwerdeführer zumindest das Recht auf Umgang einzuräumen habe. Der Urteilsspruch binde jedoch nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht hingegen deren Organe, Behörden und die nach Art. 97 Abs. 1 GG unabhängigen Organe der Rechtsprechung. Die Wirkung des Urteilsspruches erschöpfe sich demnach de iure und de facto, vorbehaltlich einer innerstaatlichen Gesetzesänderung, in der Feststellung der Sanktionierung einer in der Vergangenheit nach Ansicht des Gerichtshofs liegenden Rechtsverletzung. Das Urteil des Gerichtshofs bleibe ein jedenfalls für die nationalen Gerichte unverbindlicher Ausspruch ohne Einfluss auf die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung. Weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch das Grundgesetz verpflichteten dazu, einer die Konventionswidrigkeit eines deutschen Hoheitsaktes feststellenden Entscheidung des Gerichtshofs eine die Rechtskraft beseitigende Wirkung beizumessen.

Auf Grund des Ranges der Europäischen Menschenrechtskonvention als einfaches Gesetzesrecht unterhalb der Verfassung sei der Gerichtshof im Verhältnis zu den Gerichten der Vertragsparteien funktionell kein höherrangiges Gericht. Deshalb könnten nationale Gerichte weder bei der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention noch bei der Auslegung nationaler Grundrechte an dessen Entscheidungen gebunden sein.

Im Übrigen hätten sich infolge des Zeitablaufs der maßgebliche Sachstand ebenso wie die materielle und prozessuale Rechtslage zwischenzeitlich nachhaltig verändert. Schon deshalb könne es eine irgendwie geartete Bindung an die Entscheidung des Gerichtshofs, die rein prozessuale Fragen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht behandele, nicht geben.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 3 und Art. 6 GG sowie des Rechts auf ein faires Verfahren. Gleichzeitig beantragt er den Erlass einer einstweiligen Anordnung zum Umgang mit seinem Sohn.

Soweit sich der Beschwerdeführer auf eine Verletzung von Art. 6 EMRK (faires Verfahren) beruft, sieht er auch einen Verstoß gegen das Völkerrecht als gegeben an. Er werde als leiblicher Vater durch den angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Juni 2004 verletzt, weil das Gericht rechtsfehlerhaft davon ausgehe, dass die Entscheidung des Gerichtshofs sich nur auf die Vergangenheit beziehe. Dabei verkenne das Oberlandesgericht, dass der Gerichtshof in seiner Entscheidung eindeutig einen zukünftigen Umgang einfordere. Eine Entscheidung des Gerichtshofs binde das Oberlandesgericht auch für die Zukunft, andernfalls hätte der Gerichtshof nicht wiederholt darauf hingewiesen, dass sich das zukünftige Verhalten der mit dem Fall befassten deutschen Behörden und Gerichte an der Rechtsauffassung des Gerichtshofs zu orientieren habe.

Im Übrigen seien die Ausführungen des Oberlandesgerichts rechtsfehlerhaft, weil etwa der zitierte Art. 97 Abs. 1 GG für den vorliegenden Fall nicht einschlägig sei. Es gehe nicht um die Unabhängigkeit des Gerichts, sondern um eine konkrete Bindungswirkung der Entscheidung des Gerichtshofs. Dieser habe konkret entschieden, dass dem Kindesvater sofort Umgang zu gewähren sei, damit die Familienbande sich verfestigen könnten. Mit seiner Rechtsauffassung verstoße das Oberlandesgericht gegen Völkerrecht.

III.

Das Bundesministerium der Justiz, die Staatskanzlei des Landes Niedersachsen und das Ministerium der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt sowie das Jugendamt, die Verfahrenspflegerin und die Pflegeeltern haben in dem Verfahren eine Stellungnahme abgegeben.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sich der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. März 2004 wendet. Die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, wonach die Verfassungsbeschwerde binnen eines Monats nach der Zustellung oder formlosen Bekanntgabe der Entscheidung zu erheben und zu begründen ist, ist nicht gewahrt.

Zwar handelt es sich bei einem Beschluss über die Aussetzung der Vollziehung einer einstweiligen Anordnung um eine Zwischenentscheidung, deren selbstständige Anfechtung mit der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich ausgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 58, 1 <23> m.w.N.). In Fällen, in denen ein dringendes schutzwürdiges Interesse besteht, kann über die Verfassungsmäßigkeit einer Zwischenentscheidung jedoch unmittelbar und nicht erst in Verbindung mit der Überprüfung der Endentscheidung erkannt werden. Bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen einer Ausnahme vorliegen, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob die Zwischenentscheidung für den Betroffenen bereits einen bleibenden rechtlichen Nachteil nach sich zieht, der nicht mehr oder doch nicht vollständig behoben werden könnte (vgl. BVerfGE 1, 322 <324 f.>; 58, 1 <23>).

Mit seinem Beschluss vom 30. März 2004 setzte das Oberlandesgericht Naumburg den Vollzug der einstweiligen Anordnung des Amtsgerichts gemäß §§ 621 g, 620 e, 621 Abs. 1 Nr. 1 und 2 ZPO in Verbindung mit § 1684 Abs. 4 Satz 1 und 2 BGB aus. Die Entscheidung führte im Ergebnis dazu, dass der Beschwerdeführer die vom Amtsgericht ihm zugesprochenen Umgangskontakte mit seinem Sohn nicht wahrnehmen konnte. Insoweit ging mit der Entscheidung ein rechtlicher Nachteil für den Beschwerdeführer einher. Aus diesem Grund hätte er den Beschluss vom 30. März 2004 mit der Verfassungsbeschwerde selbstständig anfechten müssen. Die am 20. Juli 2004 beim Bundesverfassungsgericht per Telefax eingegangene Verfassungsbeschwerde hat die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine solche Anfechtung nicht gewahrt.

Soweit die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss vom 30. Juni 2004 gerichtet ist, sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt.

C.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das Oberlandesgericht hat mit seinem Beschluss vom 30. Juni 2004 gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.

Die Behörden und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland sind verpflichtet, unter bestimmten Voraussetzungen die Europäische Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den Gerichtshof bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen (I.). Dieser Verpflichtung wird die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht gerecht, weil das Gericht das in dem Fall des Beschwerdeführers ergangene Urteil des Gerichtshofs vom 26. Februar 2004 nicht in ausreichendem Maße würdigt (II.).

I.

Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation des nationalen Rechts – auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien – zu berücksichtigen (1.). Die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs erstreckt sich auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen (2.). Die Art und Weise der Bindungswirkung hängt von dem Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe ab und von dem Spielraum, den vorrangig anwendbares Recht lässt. Gerichte sind zur Berücksichtigung eines Urteils, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, jedenfalls dann verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne materiellen Gesetzesverstoß Rechnung tragen können (3.). Ein Beschwerdeführer kann die Missachtung dieser Berücksichtigungspflicht als Verstoß gegen das in seinem Schutzbereich berührte Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip rügen (4.).

1. a) Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge. Die Konvention überlässt es den Vertragsparteien, in welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen (EGMR, Urteil vom 6. Februar 1976, Series A No. 20, Ziffer 50 – Swedish Engine Drivers Union; EGMR, Urteil vom 21. Februar 1986, Series A No. 98, Ziffer 84 – James u.a.; vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 3. Aufl. 2002, S. 405; Ehlers, in: ders. , Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 2 Rn. 2 f.). Der Bundesgesetzgeber hat den genannten Übereinkommen jeweils mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt (Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952, BGBl II S. 685; die Konvention ist gemäß der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1953, BGBl 1954 II S. 14 am 3. September 1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten; Neubekanntmachung der Konvention in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls in BGBl 2002 II S. 1054). Damit hat er sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle – soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind – im Range eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 82, 106 <120>).

Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sind allerdings in der deutschen Rechtsordnung auf Grund dieses Ranges in der Normenhierarchie kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Ein Beschwerdeführer kann insofern vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts mit einer Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102 <128> m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 – 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, S. 317 <318>). Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen jedoch die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer – von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) – Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 83, 119 <128>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 – 2 BvR 591/00 -, NJW 2001, S. 2245 ff.).

b) Diese verfassungsrechtliche Bedeutung eines völkerrechtlichen Vertrages, der auf regionalen Menschenrechtsschutz zielt, ist Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, das die Betätigung staatlicher Souveränität durch Völkervertragsrecht und internationale Zusammenarbeit sowie die Einbeziehung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts fördert und deshalb nach Möglichkeit so auszulegen ist, dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nicht entsteht. Das Grundgesetz hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) und auf die europäische Integration (Art. 23 GG) festgelegt. Das Grundgesetz hat den allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt (Art. 25 Satz 2 GG) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 GG in das System der Gewaltenteilung eingeordnet. Es hat zudem die Möglichkeit der Einfügung in Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit eröffnet (Art. 24 Abs. 2 GG), den Auftrag zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten im Wege der Schiedsgerichtsbarkeit erteilt (Art. 24 Abs. 3 GG) und die Friedensstörung, insbesondere den Angriffskrieg, für verfassungswidrig erklärt (Art. 26 GG). Mit diesem Normenkomplex zielt die deutsche Verfassung, auch ausweislich ihrer Präambel, darauf, die Bundesrepublik Deutschland als friedliches und gleichberechtigtes Glied in eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzufügen (vgl. auch BVerfGE 63, 343 <370>).

Das Grundgesetz ist jedoch nicht die weitesten Schritte der Öffnung für völkerrechtliche Bindungen gegangen. Das Völkervertragsrecht ist innerstaatlich nicht unmittelbar, das heißt ohne Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG, als geltendes Recht zu behandeln und – wie auch das Völkergewohnheitsrecht (vgl. Art. 25 GG) – nicht mit dem Rang des Verfassungsrechts ausgestattet. Dem Grundgesetz liegt deutlich die klassische Vorstellung zu Grunde, dass es sich bei dem Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht um ein Verhältnis zweier unterschiedlicher Rechtskreise handelt und dass die Natur dieses Verhältnisses aus der Sicht des nationalen Rechts nur durch das nationale Recht selbst bestimmt werden kann; dies zeigen die Existenz und der Wortlaut von Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG. Die Völkerrechtsfreundlichkeit entfaltet Wirkung nur im Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen Systems des Grundgesetzes.

Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität. Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist.

Das Grundgesetz will eine weitgehende Völkerrechtsfreundlichkeit, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische Integration in eine sich allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten. Es will jedoch keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte. Selbst die weitreichende supranationale europäische Integration, die sich für den aus der Gemeinschaftsquelle herrührenden innerstaatlich unmittelbar wirkenden Normanwendungsbefehl öffnet, steht unter einem, allerdings weit zurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt (vgl. Art. 23 Abs. 1 GG). Völkervertragsrecht gilt innerstaatlich nur dann, wenn es in die nationale Rechtsordnung formgerecht, und in Übereinstimmung mit materiellem Verfassungsrecht inkorporiert worden ist.

c) Die Rechtswirkung der Entscheidungen eines völkervertraglich ins Leben gerufenen internationalen Gerichts bemisst sich auf dieser Grundlage nach dem Inhalt des inkorporierten völkerrechtlichen Vertrages und den entsprechenden Geltungsanordnungen des Grundgesetzes. Wenn das Konventionsrecht der Europäischen Menschenrechtskonvention und mit ihm der Bundesgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 59 Abs. 2 GG eine unmittelbare Geltung der Rechtsentscheide angeordnet haben, so entfalten sie unterhalb des Verfassungsrechts diese Wirkung. Diese Rechtswirkung festzustellen, ist innerstaatlich zunächst Sache der zuständigen Fachgerichte.

2. a) Eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht als Völkervertragsrecht haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt. Das Konventionsrecht selbst misst den Sachentscheidungen des Gerichtshofs unterschiedliche Rechtswirkungen zu. Nach Art. 42 und Art. 44 EMRK werden die Urteile des Gerichtshofs endgültig und erwachsen damit in formelle Rechtskraft. Die Vertragsparteien haben sich durch Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Aus dieser Vorschrift folgt, dass die Urteile des Gerichtshofs für die an dem Verfahren beteiligten Parteien verbindlich sind und damit auch begrenzte materielle Rechtskraft haben (vgl. H.-J. Cremer, in: Grote/Marauhn , Konkordanzkommentar, 2004, Entscheidung und Entscheidungswirkung, Rn. 56 f. m.w.N.).

Die materielle Rechtskraft im Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK ist durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes begrenzt (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1985 – 2 BvR 336/85 – Pakelli, EuGRZ 1985, S. 654 <656>; siehe auch E. Klein, Binding effect of ECHR judgments, Festschrift für Ryssdal, 2000, S. 705 <706 ff.>). Die Entscheidungen des Gerichtshofs in Verfahren gegen andere Vertragsparteien geben den nicht beteiligten Staaten lediglich Anlass, ihre nationale Rechtsordnung zu überprüfen und sich bei einer möglicherweise erforderlichen Änderung an der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu orientieren (vgl. Ress, Wirkung und Beachtung der Urteile und Entscheidungen der Straßburger Konventionsorgane, EuGRZ 1996, S. 350). Das Konventionsrecht verfügt insoweit nicht über eine § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind. Art. 46 Abs. 1 EMRK spricht nur eine Bindung der beteiligten Vertragspartei an das endgültige Urteil in Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand aus (res iudicata).

b) In der Sachfrage erlässt der Gerichtshof ein Feststellungsurteil; mit der Entscheidung steht fest, dass die betroffene Vertragspartei – bezogen auf den konkreten Streitgegenstand – die Konvention gewahrt oder sich zu ihr in Widerspruch gesetzt hat; eine kassatorische Entscheidung, die die angegriffene Maßnahme der Vertragspartei unmittelbar aufheben würde, ergeht hingegen nicht (vgl. Ehlers, a.a.O., § 2 Rn. 52; Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1993, S. 217 ff.; Steinberger, Human Rights Law Journal 1985, S. 402 <407>).

Aus der Feststellung einer Konventionsverletzung folgt zunächst, dass die Vertragspartei nicht mehr die Ansicht vertreten kann, ihr Handeln sei konventionsgemäß gewesen (vgl. Frowein, in: Isensee/Kirchhof , Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 180 Rn. 14). Die Entscheidung verpflichtet die betroffene Vertragspartei in Bezug auf den Streitgegenstand im Grundsatz ferner dazu, den ohne die festgestellte Konventionsverletzung bestehenden Zustand nach Möglichkeit wiederherzustellen (vgl. Polakiewicz, a.a.O., S. 97 ff.; zu den Möglichkeiten, das Ziel einer restitutio in integrum zu erreichen, siehe die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Nr. R <2000> 2 vom 19. Januar 2000). Dauert die festgestellte Verletzung noch an – etwa im Fall der fortdauernden Inhaftierung unter Verstoß gegen Art. 5 EMRK oder eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben unter Verstoß gegen Art. 8 EMRK -, so ist die Vertragspartei verpflichtet, diesen Zustand zu beenden (vgl. jüngst EGMR, No. 71503/01, Urteil vom 8. April 2004, Ziffer 198 – Assanidze, EuGRZ 2004, S. 268 <275>; siehe auch Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 <259>; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, § 16 Rn. 3; Polakiewicz, a.a.O., S. 63 ff.; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, § 13 Rn. 233). Insoweit würde die Vertragspartei durch die Nichtbeendigung oder Wiederholung ihres als konventionswidrig festgestellten Verhaltens gegenüber dem Beschwerdeführer erneut die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen (vgl. E. Klein, Binding effect of ECHR judgments, Festschrift für Ryssdal, 2000, S. 705 <708>). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Entscheidungswirkung nur auf die res iudicata bezogen ist und sich bis zu einem erneuten nationalen Verfahren unter Beteiligung des Beschwerdeführers die Sach- und Rechtslage entscheidend ändern kann.

c) Dass die Konvention allerdings der betroffenen Vertragspartei im Hinblick auf die Korrektur bereits getroffener, rechtskräftiger Entscheidungen Spielraum einräumt, zeigt sich darin, dass dem Beschwerdeführer durch den Gerichtshof eine „gerechte Entschädigung“ in Geld zugesprochen werden kann, wenn das innerstaatliche Recht der betroffenen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gestattet (vgl. Art. 41 EMRK).

Der Gerichtshof weist in seiner neueren Rechtsprechung im Zusammenhang mit Art. 41 EMRK allerdings darauf hin, dass sich die Vertragsparteien mit der Ratifikation verpflichtet haben, sicherzustellen, dass ihre innerstaatliche Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt (Art. 1 EMRK). Folglich sei es Sache des beklagten Staates, jedes Hindernis im innerstaatlichen Recht zu beseitigen, das einer Wiedergutmachung der Situation des Beschwerdeführers entgegensteht (vgl. EGMR, a.a.O., EuGRZ 2004, S. 268 <275> unter Hinweis auf EGMR, No. 39748/98, Urteil vom 17. Februar 2004, Ziffer 47 – Maestri).

Wird die betroffene Vertragspartei zur Zahlung einer Entschädigung an den erfolgreichen Beschwerdeführer gemäß Art. 41 EMRK verurteilt, folgt aus diesem Ausspruch des Gerichtshofs eine Leistungspflicht (vgl. Stöcker, Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Bundesrepublik, NJW 1982, S. 1905 <1908>). Die Gewährung einer Entschädigung ist nicht notwendig Bestandteil der Entscheidung in der Hauptsache, sondern kann zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, um den Beteiligten die Gelegenheit zu einer gütlichen Einigung zu geben. Dadurch erkennt das Konventionsrecht an, dass regelmäßig nur die betroffene Vertragspartei beurteilen kann, welche rechtlichen Handlungsmöglichkeiten in der nationalen Rechtsordnung für die Umsetzung des Entscheidungsausspruchs bestehen.

d) Die Rechtswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs richtet sich nach den völkerrechtlichen Grundsätzen zunächst auf die Vertragspartei als solche. Die Konvention verhält sich grundsätzlich indifferent zur innerstaatlichen Rechtsordnung und soll anders als das Recht einer supranationalen Organisation nicht in die staatliche Rechtsordnung unmittelbar eingreifen. Innerstaatlich werden durch entsprechende Konventionsbestimmungen in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz sowie durch rechtsstaatliche Anforderungen (Art. 20 Abs. 3, Art. 59 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG) alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden.

Diese Rechtslage entspricht der Konzeption der Europäischen Menschenrechtskonvention als eines Instruments zum Schutz und zur Durchsetzung bestimmter Menschenrechte. Die durch das Zustimmungsgesetz in das Bundesrecht übernommene Verpflichtung der Vertragsparteien, eine innerstaatliche Instanz zu schaffen, bei der die betroffene Person eine „wirksame Beschwerde“ gegen ein bestimmtes staatliches Handeln einlegen kann (Art. 13 EMRK), reicht bereits in die institutionelle Gliederung der Staatlichkeit hinab und ist nicht auf die zum auswärtigen Handeln berufene Exekutive begrenzt. Des Weiteren haben die Vertragsparteien die „wirksame Anwendung aller Bestimmungen“ der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrem innerstaatlichen Recht zu gewährleisten (vgl. Art. 52 EMRK), was in einem durch den Grundsatz der Gewaltenteilung beherrschten demokratischen Rechtsstaat nur möglich ist, wenn alle Träger hoheitlicher Gewalt an die Gewährleistungen der Konvention gebunden werden (vgl. dazu Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1985 – 2 BvR 336/85 – Pakelli, EuGRZ 1985, S. 654 <656>). Danach unterliegen auch die deutschen Gerichte einer Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des Gerichtshofs.

3. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hängt von dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe und des einschlägigen Rechts ab. Verwaltungsbehörden und Gerichte können sich nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört aber auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ können deshalb gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.

a) Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>).

Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Gerichtshofs einschlägig, so sind grundsätzlich die vom Gerichtshof in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung, namentlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen, und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 – 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004 S. 317 <319>).

Hat der Gerichtshof in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen. Gerade in Fällen, in denen staatliche Gerichte wie im Privatrecht mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an, die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Ergebnis anders ausfallen können. Es kann insofern zu verfassungsrechtlichen Problemen führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen für ihn günstigen Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis anwenden, mit der Folge, dass der insofern „unterlegene“ und möglicherweise nicht im Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligte Grundrechtsträger gar nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte.

b) aa) Hat der Gerichtshof eine innerstaatliche Vorschrift für konventionswidrig erklärt, so kann diese Vorschrift entweder in der Rechtsanwendungspraxis völkerrechtskonform ausgelegt werden, oder der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, diese mit der Konvention unvereinbare innerstaatliche Vorschrift zu ändern. Liegt der Konventionsverstoß in dem Erlass eines bestimmten Verwaltungsaktes, so hat die zuständige Behörde die Möglichkeit, diesen nach den Regelungen des Verwaltungsverfahrensrechts aufzuheben (vgl. § 48 VwVfG). Eine konventionswidrige Verwaltungspraxis kann geändert werden, die Pflicht dazu können Gerichte feststellen.

bb) Bei einem Konventionsverstoß durch Gerichtsentscheidungen verpflichten weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch das Grundgesetz dazu, einem Urteil des Gerichtshofs, in dem festgestellt wird, dass die Entscheidung eines deutschen Gerichts unter Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zustande gekommen sei, eine die Rechtskraft dieser Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen (vgl. Bundesverfassungsgericht, EuGRZ 1985, S. 654). Daraus ist freilich nicht der Schluss zu ziehen, dass Entscheidungen des Gerichtshofs von deutschen Gerichten nicht berücksichtigt werden müssten.

Die Rechtsprechung ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Der dem Gesetz unterworfene Richter wird durch diese aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitete Bindung in seiner verfassungsmäßig garantierten Unabhängigkeit nicht berührt (Art. 97 Abs. 1 GG; vgl. BVerfGE 18, 52 <59>; 19, 17 <31 f.>). Sowohl die Rechtsbindung als auch die Gesetzesunterworfenheit konkretisieren die den Richtern anvertraute Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG). Da die Europäische Menschenrechtskonvention – in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – im Range eines förmlichen Bundesgesetzes gilt, ist sie in den Vorrang des Gesetzes einbezogen und muss insoweit von der rechtsprechenden Gewalt beachtet werden.

Im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit ist festzuhalten, dass der Bundesgesetzgeber im Jahr 1998 mit § 359 Nr. 6 StPO einen neuen Wiederaufnahmegrund für strafrechtliche Verfahren in das Strafprozessrecht eingefügt hat (Gesetz zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 9. Juli 1998, BGBl I S. 1802). Danach ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn der Gerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das deutsche Urteil auf dieser Verletzung beruht. Diese Gesetzesänderung beruht auf dem Gedanken, dass eine im konkreten Einzelfall in ihrer Wirkung andauernde Konventionsverletzung jedenfalls in dem besonders grundrechtssensiblen Bereich des Strafrechts ungeachtet bereits eingetretener Rechtskraft beendet werden soll (vgl. § 79 Abs. 1 BVerfGG), wenn das Urteil des Gerichtshofs für das nationale Verfahren entscheidungserheblich ist. Das zuständige Gericht erhält somit die Gelegenheit, sich auf Antrag erneut mit dem an sich abgeschlossenen Fall zu befassen und die neuen Rechtstatsachen in seine Willensbildung einzustellen. Dabei äußert das Gesetz die grundsätzliche Erwartung, dass das Gericht seine ursprüngliche – konventionswidrige – Entscheidung ändert, soweit diese auf der Verletzung beruht.

In anderen Verfahrensordnungen ist die Frage, wie die Bundesrepublik Deutschland im Fall ihrer Verurteilung durch den Gerichtshof reagieren soll, wenn nationale Gerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen sind, nicht abschließend beantwortet. Es kann Sachlagen geben, in denen deutsche Gerichte zwar nicht über die res iudicata, so doch über den Gegenstand, zu dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Konventionsverstoß der Bundesrepublik Deutschland festgestellt hat, erneut entscheiden können. Dies kann etwa der Fall sein, wenn eine erneute Befassung des Gerichts auf Grund neuen Antrags oder veränderter Umstände vorgesehen oder das Gericht in einer anderen Konstellation mit der Sache noch befasst ist. Letztendlich ist ausschlaggebend, ob ein Gericht im Rahmen des geltenden Verfahrensrechts die Möglichkeit zu einer weiteren Entscheidung hat, bei der es das einschlägige Urteil des Gerichtshofs berücksichtigen kann.

In solchen Fallkonstellationen wäre es nicht hinnehmbar, den Beschwerdeführer lediglich auf eine Entschädigung in Geld zu verweisen, obwohl eine Restitution weder an tatsächlichen noch an rechtlichen Gründen scheitern würde.

c) Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwendung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will.

Das Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist darauf ausgerichtet, konkrete Einzelfälle am Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle im zweiseitigen Verhältnis zwischen Beschwerdeführer und Vertragspartei zu entscheiden. Die Entscheidungen des Gerichtshofs können auf durch eine differenzierte Kasuistik geformte nationale Teilrechtssysteme treffen. In der deutschen Rechtsordnung kann dies insbesondere im Familien- und Ausländerrecht sowie im Recht zum Schutz der Persönlichkeit eintreten (siehe dazu jüngst EGMR, No. 59320/00, Urteil vom 24. Juni 2004 – von Hannover gegen Deutschland, EuGRZ 2004, S. 404 ff.), in denen widerstreitende Grundrechtspositionen durch die Bildung von Fallgruppen und abgestuften Rechtsfolgen zu einem Ausgleich gebracht werden. Es ist die Aufgabe der nationalen Gerichte, eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den betroffenen Teilrechtsbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen, weil es weder der völkervertraglichen Grundlage noch dem Willen des Gerichtshofs entsprechen kann, mit seinen Entscheidungen gegebenenfalls notwendige Anpassungen innerhalb einer nationalen Teilrechtsordnung unmittelbar selbst vorzunehmen.

Bei der insoweit erforderlichen wertenden Berücksichtigung durch die nationalen Gerichte kann auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof, insbesondere bei zivilrechtlichen Ausgangsverfahren, die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig abbildet. Verfahrensbeteiligte vor dem Gerichtshof ist neben dem Beschwerdeführer nur die betroffene Vertragspartei; die Möglichkeit einer Beteiligung Dritter an dem Beschwerdeverfahren (vgl. Art. 36 Abs. 2 EMRK) ist kein institutionelles Äquivalent für die Rechte und Pflichten als Prozesspartei oder weiterer Beteiligter im nationalen Ausgangsverfahren.

4. Für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung der Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Verträge, die durch Gesetz die Kraft innerstaatlichen deutschen Rechts erhalten haben, gelten dieselben Grundsätze, die auch sonst die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Gerichtsentscheidungen zu überprüfen, begrenzen. Die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung völkerrechtlicher Abkommen können grundsätzlich nur daraufhin geprüft werden, ob sie willkürlich sind oder auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen oder mit anderen verfassungsrechtlichen Vorschriften unvereinbar sind (vgl. BVerfGE 18, 441 <450>; 94, 315 <328>).

Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit auch dazu berufen, Verletzungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen (vgl. BVerfGE 58, 1 <34>; 59, 63 <89>; 109, 13 <23>). Das Bundesverfassungsgericht steht damit mittelbar im Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts. Aus diesem Grund kann es geboten sein, abweichend von dem herkömmlichen Maßstab die Anwendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Fachgerichte zu überprüfen.

Dies gilt in besonderem Maße für die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, die dazu beiträgt, eine gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung zu fördern. Das Grundgesetz weist mit Art. 1 Abs. 2 GG dem Kernbestand an internationalen Menschenrechten einen besonderen Schutz zu. Dieser ist in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG die Grundlage für die verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>). Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs etwa wegen einer geänderten Tatsachenbasis gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich auch gegen Grundrechte Dritter verstößt. „Berücksichtigen“ bedeutet, die Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden, soweit die Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht verstößt. Die Konventionsbestimmung muss in der Auslegung des Gerichtshofs jedenfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, das Gericht muss sich zumindest gebührend mit ihr auseinander setzen. Bei einem zwischenzeitlich veränderten oder bei einem anderen Sachverhalt werden die Gerichte ermitteln müssen, worin der spezifische Konventionsverstoß nach Auffassung des Gerichtshofs gelegen hat und warum eine geänderte Tatsachenbasis eine Anwendung auf den Fall nicht erlaubt. Dabei wird es immer auch von Bedeutung sein, wie sich die Berücksichtigung der Entscheidung im System des jeweiligen Rechtsgebietes darstellt. Auch auf der Ebene des Bundesrechts genießt die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht, zumal wenn es in diesem Zusammenhang nicht bereits Gegenstand der Entscheidung des Gerichtshofs war.

Vor diesem Hintergrund muss es jedenfalls möglich sein, gestützt auf das einschlägige Grundrecht, in einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu rügen, staatliche Organe hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs missachtet oder nicht berücksichtigt. Dabei steht das Grundrecht in einem engen Zusammenhang mit dem im Rechtsstaatsprinzip verankerten Vorrang des Gesetzes, nach dem alle staatlichen Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit an Gesetz und Recht gebunden sind (vgl. BVerfGE 6, 32 <41>).

II.

Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg vom 30. Juni 2004 verstößt gegen Art. 6 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Das Oberlandesgericht hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. Februar 2004 bei seiner Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksichtigt, obwohl es dazu verpflichtet war.

1. Die angegriffene Entscheidung lässt nicht erkennen, ob und in welchem Umfang sich das Oberlandesgericht damit auseinander gesetzt hat, dass das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Umgangsrecht grundsätzlich unter dem Schutz des Art. 6 GG steht. Dieser verfassungsrechtliche Schutz ist vor dem Hintergrund seiner Ausführungen zur komplementären Garantie in Art. 8 EMRK zu sehen. Das Oberlandesgericht hätte sich in einer nachvollziehbaren Form damit auseinander setzen müssen, wie Art. 6 GG in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise hätte ausgelegt werden können.

Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass der vom Gerichtshof festgestellte Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 8 EMRK aus der Perspektive des Konventionsrechts andauert, weil der Beschwerdeführer weiterhin keinen Umgang mit seinem Sohn hat. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Wahl der Mittel, mit denen das Urteil innerstaatlich umgesetzt werden muss, frei ist, sofern diese Mittel mit den Schlussfolgerungen aus dem Urteil vereinbar sind. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutet dies, dass dem Beschwerdeführer mindestens der Umgang mit seinem Kind ermöglicht werden müsse (EGMR, Urteil vom 26. Februar 2004, Ziffer 64). Diese Auffassung des Gerichtshofs hätte das Oberlandesgericht veranlassen müssen, sich der Frage zu widmen, ob und inwieweit ein persönlicher Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Kind gerade auch dessen Wohl entsprechen könnte und welche – gegebenenfalls durch ein neues Sachverständigengutachten – belegbaren Hindernisse die Berücksichtigung des Kindeswohls dem vom Gerichtshof für geboten erachteten und von Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Umgang entgegenstellt.

2. Das Oberlandesgericht nimmt insbesondere in verfassungsrechtlich nicht haltbarer Weise an, dass ein Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur die Bundesrepublik Deutschland als Völkerrechtssubjekt, nicht aber deutsche Gerichte binde. Alle staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland sind – in dem hier unter C. I. entwickelten Umfang – an die Konvention und die für Deutschland in Kraft getretenen Zusatzprotokolle im Rahmen ihrer Zuständigkeit kraft Gesetzes gebunden. Sie haben die Gewährleistungen der Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Gewährleistungen zu berücksichtigen.

Im vorliegenden Fall hatte das Oberlandesgericht durch das Urteil des Gerichtshofs vom 26. Februar 2004 besondere Veranlassung zu einer Auseinandersetzung mit dessen Gründen, weil die Entscheidung, mit der ein Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen die Konvention festgestellt wurde, zu dem Gegenstand ergangen war, mit dem das Oberlandesgericht erneut befasst war. Die Berücksichtigungspflicht beeinträchtigt das Oberlandesgericht weder in seiner verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit, noch zwingt sie das Gericht zu einem unreflektierten Vollzug der Entscheidung des Gerichtshofs. Das Oberlandesgericht ist jedoch an Gesetz und Recht gebunden, wozu nicht nur das bürgerliche Recht und das einschlägige Verfahrensrecht gehören, sondern auch die im Range eines einfachen Bundesgesetzes stehende Europäische Menschenrechtskonvention.

Bei der rechtlichen Würdigung insbesondere neuer Tatsachen, der Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen wie derer der Pflegefamilie und der Einordnung des Einzelfalls in den Gesamtzusammenhang familienrechtlicher Fälle mit Bezug zum Umgangsrecht ist das Oberlandesgericht im konkreten Ergebnis nicht gebunden. Es fehlt dem angegriffenen Beschluss aber an einer Erörterung der genannten Zusammenhänge.

3. Es kann dahinstehen, ob das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu vertretender Weise davon, dass eine einstweilige Anordnung nur auf Antrag und nicht – wie im vorliegenden Fall – auch von Amts wegen ergehen kann, und damit von der Zulässigkeit der Beschwerde ausgegangen ist (vgl. etwa OLG Saarbrücken, OLG-Report 2001, S. 269 einerseits, OLG Brandenburg, OLG-NL 1994, S. 159 und OLG Naumburg, JMBl ST 2003, S. 346 andererseits). Das Oberlandesgericht hat jedenfalls auch seine prozessrechtlichen Darlegungen ohne zutreffende Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs vom 26. Februar 2004 angestellt. Dies war aber für die Frage von Bedeutung, ob das Amtsgericht verpflichtet oder berechtigt war, von Amts wegen die Einräumung eines Umgangsrechts zu prüfen und beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen – wie auch geschehen – Umgangskontakte im Wege der einstweiligen Anordnung zu ermöglichen.

D.

Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004
2 BvR 1481/04

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