BVerfG: Gestaltung des Sorgerechtsverfahrens unter dem Grundrechtsschutz aus Art. 6 II S.1 GG

Die Wirksamkeit des Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm vom 11. Mai 2007 – 11 UF 229/06 – wird einstweilen bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens bis zum 12. Dezember 2007, ausgesetzt.

Für diese Dauer wird das Verbleiben der Kinder L. und L. bei der Beschwerdeführerin angeordnet, es sei denn, die Kinder sind zu ihrem Schutze unterzubringen.

Etwaige Umgangsrechte des Kindesvaters bleiben von dieser Regelung unberührt.

Gründe:

Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für ihre beiden Kinder auf den Kindesvater.

1. Aus der seit dem 10. Dezember 2005 rechtskräftig geschiedenen Ehe der Beschwerdeführerin und des Vaters gingen ein im Oktober 1997 geborener Sohn und eine im Januar 1999 geborene Tochter hervor. Der Vater zog im Juni 2003 aus dem ehegemeinsamen Hausanwesen aus und ließ die Kinder bei der Mutter.

a) Auf Antrag der Beschwerdeführerin übertrug das Amtsgericht mit Beschluss vom 12. September 2006 dieser das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder.

b) Auf die Beschwerde des Kindesvaters änderte das Oberlandesgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 11. Mai 2007 den amtsgerichtlichen Beschluss ab und übertrug das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder für die Zeit ab dem 21. Juni 2007 auf den Vater. Es stützte sich dabei maßgeblich darauf, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in zweiter Instanz die Mutter ein verleugnetes Alkoholproblem habe, dessen Entwicklung nicht absehbar sei. Zwar sei aufgrund der Kontrollbesuche des Jugendamts und der ärztlichen Berichte davon auszugehen, dass die Mutter nur in solchem Umfang trinke, dass sie die Kontrolle über ihr Handeln behalte und die Versorgung und Betreuung der Kinder gewährleisten könne, sodass keine aktuelle Gefährdung bestehe. Wer seine Sucht leugne, verkenne aber die Gefahr der Ausweitung des Kontrollverlusts.

c) Die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wies das Oberlandesgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 30. Mai 2007 zurück.

2. Die Beschwerdeführerin, die mit ihrer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 6 Abs. 2 GG rügt, beantragt, im Wege einstweiliger Anordnung die „Vollziehung“ des Beschlusses des Oberlandesgerichts Hamm vom 11. Mai 2007 einstweilen bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen und die „Vollziehbarkeit“ des Beschlusses des Amtsgerichts Hamm vom 12. September 2006 wiederherzustellen sowie bis zur Entscheidung der Hauptsache das Verbleiben der beiden Kinder bei der Beschwerdeführerin anzuordnen.

II.

Die beantragte einstweilige Anordnung ist mit dem aus dem Tenor ersichtlichen Inhalt zu erlassen. Entgegen dem Begehren der Beschwerdeführerin ist allerdings nicht die Vollziehung des Beschlusses des Oberlandesgerichts auszusetzen, sondern dessen Wirksamkeit; denn eine Entscheidung über die Zuweisung eines Teilbereichs der elterlichen Sorge hat – anders als Umgangsregelungen und Herausgabeanordnungen – keinen vollstreckungsfähigen Inhalt (vgl. BGH, NJW 2005, S. 3424 <3425> m.w.N.).

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zu Grunde (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>; 36, 37 <40>).

In Sorgerechtsstreitigkeiten ist auch zu berücksichtigen, dass die Abwägung nicht an einer Sanktion des Fehlverhaltens eines Elternteils, sondern vorrangig am Kindeswohl zu orientieren ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. November 2005 – 1 BvR 2349/05 -, nicht veröffentlicht; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. Mai 2007 – 1 BvR 945/07 und 1 BvR 1174/07 -, nicht veröffentlicht).

2. Die Folgenabwägung führt – nachdem die Verfassungsbeschwerde zulässig und nicht offensichtlich unbegründet ist – zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

Erginge die beantragte einstweilige Anordnung, so würden die Kinder zunächst weiterhin bei ihrer Mutter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben. Das Oberlandesgericht geht selbst davon aus, dass damit eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls derzeit nicht verbunden ist. Der Vater wäre indessen in seinem Elternrecht eingeschränkt, weil ein etwaiger Wechsel der Kinder zu ihm – erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet – sich zeitlich um einen – allerdings überschaubaren – Zeitraum verzögerte.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so würden die Kinder, die mehrere Jahre bei ihrer Mutter gelebt haben, von ihr als ihrem derzeit hauptsächlich betreuenden Elternteil getrennt und in ein neues Umfeld verbracht. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründet, wäre ein weiterer Wohnortwechsel der Kinder zurück zur Mutter zu gewärtigen. Diese mehrfachen Wechsel des Ortes und der unmittelbaren Bezugsperson beeinträchtigten das Kindeswohl in nicht unerheblichem Maße.

Wägt man die jeweiligen Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die dem Vater im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die Nachteile, die für die Kinder und die Mutter im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung entstehen könnten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

BVerfG, Beschluss vom 12.06.2007
1 BvR 1426/07

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