- Der Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 30. Oktober 2007 – 2 UF 116/07 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes.Der Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht Braunschweig zurückverwiesen.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 21. Dezember 2007 – 2 UF 116/07 – wird damit gegenstandslos.
- Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 10.000 € (in Worten:zehntausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Ablehnung der Abänderung einer Sorgerechtsentscheidung.
1. Aus der geschiedenen Ehe des Beschwerdeführers und der Kindesmutter ging im Juli 1996 der verfahrensbetroffene Sohn G. hervor. Seit der Trennung der Eltern lebt das Kind bei der Mutter, später kam der neue Lebensgefährte der Mutter hinzu. Der Vater ist wiederverheiratet und lebt mit seiner Frau und deren volljährigen Sohn zusammen.
Mit Beschluss vom 4. August 2000 hatte das Amtsgericht – nach Einholung eines Sachverständigengutachtens – das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind der Mutter übertragen. Ende 2003 blieb ein vom Vater gestellter Antrag, ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Vermögenssorge für das Kind zu übertragen, nach Einholung eines – das im vorangegangenen Verfahren eingeholte Gutachten ergänzenden – Gutachtens ohne Erfolg.
a) Im Ausgangsverfahren übertrug das Amtsgericht mit – nicht angegriffenem – Beschluss vom 17. Juli 2007 unter Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts vom 4. August 2000 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind dem Vater. Das Kind habe bis jetzt durchgehend – zunächst in Hannover, seit letztem Sommer in W. – bei seiner Mutter gelebt. Seit dem Umzug nach W. äußere das Kind den Wunsch, zum Vater nach Berlin zu ziehen. Aus dem früheren Verfahren, insbesondere aus dem eingeholten Sachverständigengutachten ergebe sich, dass beide Elternteile gleichermaßen geeignet seien, das Kind angemessen zu versorgen, zu fördern und zu erziehen. Dies bestätige auch der eingeholte Bericht des Jugendamtes des Landkreises W. vom 7. Mai 2007. Deshalb sei im vorliegenden Fall entscheidend, ob dem seit nunmehr einem Jahr kontinuierlich geäußerten Wunsch des Kindes stattzugeben sei.
Die Sachverständige habe in ihrem Gutachten vom 27. Juni 2003 bereits festgestellt, dass das Kind aufgrund seines Alters und seines sehr guten intellektuellen Entwicklungsstands die Konsequenzen seiner Sinnesäußerung auch für die Zukunft überschauen könne. Weiter habe sie festgestellt, dass für das Kind die Alternative – Leben in Berlin – inzwischen vorstellbar und einschätzbar sei und deshalb der Willensäußerung des Kindes besonderer Wert beizumessen sei. Damals habe das Kind ausdrücklich den Wunsch geäußert, bei der Mutter zu verbleiben. Die qualitativen Bedingungen, die an den Willen eines Kindes gestellt würden, müssten erfüllt sein, namentlich ein klarer Wille, der keinen Zweifel lasse, ein konstanter Wille und ein nachvollziehbarer, verstehbarer Wille. Diese Voraussetzungen lägen nunmehr für den Wunsch des Sohnes, nach Berlin ziehen zu wollen, ebenfalls vor. Er sei inzwischen vier Jahre älter geworden, habe seit einem Jahr den Wunsch, zum Vater zu ziehen, und wisse genau, was ihn dort erwarte. Dies habe auch in dem vom Gericht mit dem Kind geführten Gespräch festgestellt werden können. Der Junge habe unter anderem seinen Wunsch damit begründet, zu seiner Mutter nicht mehr das frühere Vertrauen zu haben. Im Wesentlichen habe es hierzu vorgetragen, die Mutter habe ihn mit dem Umzug nach W. überfahren, indem sie ihm erst kurz vor dem Umzug hiervon Mitteilung gemacht und ihn in keiner Weise in ihre Pläne eingeweiht habe. Hierdurch sei sein Vertrauen zu seiner Mutter erschüttert. Weitere wesentliche Gründe habe der Junge zwar nicht angeben können. Er sei in seinem Wunsch aber auch durch Vorhalte nicht zu erschüttern gewesen. Ihm sei klar, dass der Schulwechsel wiederum mit Schwierigkeiten verbunden sei. Ebenso sei ihm in vollem Umfang klar, dass er sich neue Freunde suchen müsse. Dies alles stelle aus seiner Sicht kein größeres Problem dar.
Mit Rücksicht hierauf habe sich auch das Jugendamt eindeutig für den Umzug des Kindes nach Berlin ausgesprochen. Der in der mündlichen Verhandlung anwesende und angehörte Vertrauenslehrer der vom Kind besuchten Schule in W. habe ebenfalls geäußert, dass das Kind ihm gegenüber verschiedentlich unmissverständlich und in nachvollziehbarer Weise dargelegt habe, dass es einen Umzug zu seinem Vater wünsche. Auch er sei der Meinung, dieser Kindeswille sei ernst zu nehmen und zu berücksichtigen.
b) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 30. Oktober 2007 änderte das Oberlandesgericht den amtsgerichtlichen Beschluss ab und wies den Antrag des Vaters auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für das Kind zurück.
Der Senat habe dem Kind einen Verfahrenspfleger bestellt, der mit dem Kind zwei ausführliche Gespräche geführt habe, über deren Inhalt er berichtet habe. Der Senat habe ferner einen ergänzenden Bericht des Jugendamts eingeholt und das Kind persönlich angehört. Schließlich habe der Senat Beweis erhoben durch zeugenschaftliche Vernehmung des Klassen- und Vertrauenslehrers des Kindes.
Die Voraussetzungen für eine Abänderung des Beschlusses des Amtsgerichts vom 4. August 2000 und die Übertragung des alleinigen Aufenthaltsbestimmungsrechts für das Kind auf den Vater lägen nicht vor. Gemäß § 1696 Abs. 1 BGB setze eine Abänderung der bestehenden Regelung des Aufenthaltsbestimmungsrechts voraus, dass eine solche aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig berührenden Gründen angezeigt sei. Die vom Gesetz vorausgesetzten, das Kindeswohl nachhaltig berührenden Gründe verlangten eine Steigerung gegenüber dem ansonsten gemäß § 1697a BGB maßgeblichen Kindeswohlerfordernis. Erforderlich sei, dass die Vorteile der neuen Regelung die Gesichtspunkte deutlich überwögen, die für die bestehende Regelung stritten. Dem Gesichtspunkt der Kontinuität komme damit eine erhöhte Bedeutung zu. Trotz fehlender materieller Rechtskraft sollten Entscheidungen über das Sorgerecht nicht ohne Weiteres abänderbar sein. Neben dem Kriterium der Kontinuität seien bei der Kindeswohlprüfung vor allem die Förderung der kindlichen Entwicklung und der Wille des Kindes zu berücksichtigen. Hiernach lägen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für eine Änderung der bestehenden Regelung nicht vor.
Die gegenwärtige häusliche und schulische Situation des Kindes entspreche seinem Wohl. Das Kind sei seit seiner Geburt von der Mutter betreut und erzogen worden. Anhaltspunkte für Defizite bei der Betreuung und Erziehung lägen nicht vor. Das Kind besuche altersgerecht die 6. Klasse eines Gymnasiums. Sein Klassen- und Vertrauenslehrer habe das Kind als einen klugen und in jeder Hinsicht normalen Jungen charakterisiert, der seiner Einschätzung nach ein gutes Potential habe. Das Kind sei in der Klassengemeinschaft eingebunden und dort anerkannt, Defizite im Sozialverhalten seien vom Zeugen nicht geschildert worden. Auch in seiner Anhörung durch den Senat habe das Kind den Eindruck eines altersgerecht entwickelten Kindes hinterlassen. Über Konflikte mit der Mutter habe das Kind nicht berichtet. Vielmehr habe es geäußert, dass es mit der Mutter und auch mit deren Lebensgefährten gut zurecht komme. Es gebe auch keinen Streit wegen seines Wunsches, zum Vater nach Berlin zu ziehen; es sei lediglich so, dass die Mutter diesen Wunsch nicht verstehe. Das Kind habe an den Wochenenden und in den Schulferien regelmäßigen Umgang mit dem Vater. Die Bindungstoleranz sei damit auf Seiten der Mutter mittlerweile in ausreichendem Maße vorhanden.
Eine Abänderung der bestehenden Regelung könnte demnach allein wegen des vom Kind geäußerten Wunsches geboten sein, zum Vater nach Berlin zu ziehen; dieses sei jedoch nicht der Fall.
Bei der Kindeswohlprüfung sei der Wille des Kindes ein wichtiges Kriterium, dessen Bedeutung mit dem Alter des Kindes steige. Allerdings sei genau zu überprüfen, wie der vom Kind geäußerte Wille zustande gekommen sei. Zu überprüfen sei insbesondere, ob der geäußerte Wille tatsächlich von einer stärkeren emotionalen Bindung zu einem Elternteil getragen werde oder ob er von anderen Faktoren beeinflusst sei, wie etwa dem Wunsch nach mehr Ungebundenheit oder materieller Verwöhnung. Dabei könne der Kindeswille an Bedeutung verlieren, wenn er auf der Beeinflussung durch die Eltern beruhe.
Spätestens seit Ende 2006/Anfang 2007 äußere das Kind kontinuierlich den Wunsch, zum Vater nach Berlin zu ziehen. Entsprechend habe sich das Kind gegenüber seinen Eltern, seinem Klassen- und Vertrauenslehrer und dem Jugendamt geäußert. Auch im vorliegenden Verfahren habe das Kind in den Gesprächen mit seinem Verfahrenspfleger und in den Anhörungen durch das Amtsgericht und den Senat angegeben, dass es lieber beim Vater leben wolle.
Es könne jedoch nicht festgestellt werden, dass dieser vom Kind geäußerte Wille von einer wesentlich engeren emotionalen Bindung zum Vater getragen werde. Das Kind habe seinen Wunsch im Wesentlichen negativ damit begründet, dass es das Vertrauen zur Mutter verloren habe. Dies habe seine Ursache darin, dass diese mit ihm nach W. verzogen sei, ohne ihn in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, und zuvor in Hannover die Probezeit auf einem Gymnasium gegen seinen Willen habe verlängern wollen. Beides liege jedoch mittlerweile mehr als ein Jahr zurück. Das Kind habe keine aktuellen Ereignisse geschildert, die aus seiner Sicht das Verhältnis zur Mutter belasteten. Ob die vom Kind geschilderten, mehr als ein Jahr zurückliegenden Ereignisse bei einem Kind in seinem Alter tatsächlich zu einem dauerhaften Vertrauensverlust zu demjenigen Elternteil führen könnten, der ihn seit seiner Geburt betreue, erscheine aus Sicht des Senats zweifelhaft.
Positiv habe das Kind seinen Wunsch allein damit begründet, dass es sich im Haushalt des Vaters wohler fühle und zu diesem ein etwas besseres Verhältnis habe. In seiner Anhörung durch den Senat habe das Kind hierzu auch auf Nachfrage keine weiteren Angaben machen können. Auch in seinen Gesprächen mit dem Verfahrenspfleger habe sich das Kind nicht näher geäußert. Es bleibe damit offen, aus welchem Grund die Beziehung zum Vater aus Sicht des Kindes eine andere und bessere Qualität haben solle als diejenige zur Mutter. Zwar könne von einem Kind in einem Alter des verfahrensbetroffenen Kindes keine bis ins Einzelne gehende Begründung erwartet werden. Die Angaben des Kindes blieben jedoch allgemein und ließen auch keine kindgerechte Schilderung einer engeren emotionalen Bindung zum Vater erkennen.
Die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der vom Kind geäußerte Wille auf einer Beeinflussung durch den Vater beruhe, könne im Ergebnis dahinstehen. Entscheidend sei, dass sich der vom Kind geäußerte Wunsch, zum Vater nach Berlin zu ziehen, in seinem alltäglichen Leben nicht widerspiegle. Der Klassen- und Vertrauenslehrer habe eindeutig und glaubhaft geschildert, dass das Kind in seiner schulischen Umgebung einen unbeschwerten und fröhlichen Eindruck mache, gut in die Klassengemeinschaft integriert und bei seinen Mitschülern anerkannt sei. Das Kind lebe nach seinem Eindruck im Hier und Jetzt und habe nach dem Ende der Sommerferien ohne Zögern für das Amt des Klassensprechers kandidiert. Gegenüber seinen Mitschülern habe das Kind den eventuellen Umzug nach Berlin nicht thematisiert. Die schulischen Leistungen gäben keinen ernsthaften Anlass zur Sorge, wenn auch das Kind sein Potential noch nicht ausgeschöpft habe.
Das Kind habe in seiner Anhörung durch den Senat auch keine Konflikte im häuslichen Bereich geschildert. Sein Verhältnis zur Mutter und zu deren Lebensgefährten sei gut. Im Ergebnis lasse das alltägliche Leben des Kindes damit nicht erkennen, dass dieses wegen seines nicht erfüllten Wunsches, zum Vater zu ziehen, resigniere oder eine Verweigerungshaltung einnehme.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände stelle der von dem erst 11-jährigen Kind geäußerte Wunsch keinen Grund dar, der es rechtfertigen könnte, seinen derzeitigen und seinem Wohl entsprechenden Lebensmittelpunkt im Haushalt der Mutter in den Haushalt des Vaters nach Berlin zu verlegen, zumal hiermit ein weiterer mit einem Schulwechsel verbundener Umzug verbunden wäre.
c) Mit dem angegriffenen Beschluss vom 21. Dezember 2007 wies das Oberlandesgericht die vom Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge, hilfsweise Gegenvorstellung zurück.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Elternrechts.
3. Die Verfassungsbeschwerde wurde der Regierung des Landes Niedersachsen und der Kindesmutter zugestellt; ferner wurde allen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zum Gegenstandswert gegeben.
Während das Land Niedersachsen von einer Stellungnahme abgesehen hat, hat die Kindesmutter die angegriffenen Entscheidungen verteidigt. Der Beschwerdeführer hat die Festsetzung des Gegenstandswertes auf 10.000 € angeregt.
4. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Elternrechts des Beschwerdeführers geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Oktober 2007 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG.
a) Allerdings ist gegen den einfachrechtlichen Ausgangspunkt des Oberlandesgerichts, dass gemäß § 1696 Abs. 1 BGB triftige, das Wohl des Kindes nachhaltig berührende Gründe vorliegen müssen, um den Wechsel des Kindes zum Vater zuzulassen, und eine Abänderung der Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht besondere Anforderungen an die Kindeswohlprüfung stellt, von Verfassungs wegen nichts zu erinnern (vgl. dazu BVerfGK 5, 161 <167>).
b) Indes liegt dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Oktober 2007 eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung und Tragweite des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und der dabei gebotenen Berücksichtigung des kindlichen Willens zugrunde.
aa) Grundsätzlich ist die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts sowie die Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Regelungen im einzelnen Fall Angelegenheit der zuständigen Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen, es sei denn, dass spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist (vgl.BVerfGE 1, 418 <420> ). Nur dann, wenn aus der Entscheidung Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Reichweite eines Grundrechts beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind, ist das Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts geboten (vgl.BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 55, 171 <180 f.> ). Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe lassen sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht starr und gleich bleibend ziehen; ihm muss ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht (vgl.BVerfGE 42, 163 <168> ). Die Intensität dieser Prüfung hängt namentlich davon ab, in welchem Maße von der Entscheidung Grundrechte beeinträchtigt werden (vgl.BVerfGE 83, 130 <145> m.w.N.).
bb) Im Sorgerechtsverfahren ist der Wille des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>).
Jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen den Eltern, die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss nicht nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein, sondern das Kind auch in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen, weil die sorgerechtliche Regelung entscheidenden Einfluss auf das weitere Leben des Kindes nimmt und es daher unmittelbar betrifft (vgl.BVerfGE 37, 217 <252>; 55, 171 <179> ). Hierzu gehört, dass der vom Kind aufgrund seines persönlichen Empfindens und seiner eigenen Meinung geäußerte Wille als Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung bei der Entscheidung über sein zukünftiges Verbleiben bei einem Elternteil hinreichend Berücksichtigung findet.
Hat der Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringes Gewicht, weil das Kind noch nicht in der Lage ist, sich einen eigenen Willen zu bilden, so kommt ihm mit zunehmendem Alter und Einsichtsfähigkeit des Kindes vermehrt Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. September 2006 – 1 BvR 1827/06<7A> -, FamRZ 2007, S. 105 <106>, und vom 23. März 2007 – 1 BvR 156/07 -, FamRZ 2007, S. 1078 <1079>). Nur dadurch, dass der wachsenden Fähigkeit eines Kindes zu eigener Willensbildung und selbständigem Handeln Rechnung getragen wird, kann das auch mit dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verfolgte Ziel, dass ein Kind sich durch Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 1. April 2008 – 1 BvR 1620/04 -, FamRZ 2008, S. 845 <848>), erreicht werden.
Ein vom Kind kundgetaner Wille kann ferner Ausdruck von Bindungen zu einem Elternteil sein, die es geboten erscheinen lassen können, ihm nachzukommen (vgl.BVerfGE 55, 171 <180, 182 f.> ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 5. September 2007 – 1 BvR 1426/07 -, FamRZ 2007, S. 1797 <1798> m.w.N.). Hat ein Kind zu einem Elternteil eine stärkere innere Beziehung entwickelt, so muss dies bei der Sorgerechtsentscheidung berücksichtigt werden (vgl.BVerfGE 55, 171 <184>).
cc) Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben hält der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 30. Oktober 2007 nicht stand.
Das Oberlandesgericht hat verkannt, welche Tragweite dem von einem überdurchschnittlich entwickelten 11-jährigen Kind über einen langen Zeitraum hinweg geäußerten Willen, von der Obhut seines betreuenden in die seines anderen Elternteils zu wechseln, zukommt.
Obwohl das Oberlandesgericht davon ausgegangen ist, dass das Kind seit langem den Wunsch habe, zu seinem Vater zu ziehen, es diesen Wunsch über längere Zeit gegenüber verschiedenen Personen bekundet und zudem angegeben habe, sich im Haushalt des Vaters wohler zu fühlen, zu diesem ein besseres Verhältnis und zu seiner Mutter nicht mehr so viel Vertrauen wie zu seinem Vater zu haben, hat das Oberlandesgericht ausgeführt, es habe nicht festgestellt werden können, dass der vom Kind geäußerte Wunsch von einer wesentlich engeren emotionalen Bindung zum Vater getragen werde.
Soweit das Oberlandesgericht diesbezüglich darauf abstellt, die Ereignisse, die aus Sicht des Kindes das Verhältnis zur Mutter belasteten, lägen mehr als ein Jahr zurück, weshalb zu bezweifeln sei, ob dies bei einem Kind in seinem Alter tatsächlich zu einem dauerhaften Vertrauensverlust führen könne, hätte das Oberlandesgericht sich damit auseinandersetzen müssen, dass allein der Zeitablauf nicht die Annahme rechtfertigen kann, der Vertrauensverlust des Kindes sei weniger gewichtig. Es hätte sich insoweit dazu verhalten müssen, dass sich der Vertrauensverlust aufgrund der unveränderlichen Ablehnung des kindlichen Wechselwunsches durch die Mutter trotz nachhaltiger Willensbekundung des Kindes, beim Vater leben zu wollen, und des parallel fortschreitenden Alters des Kindes durchaus auch hat vergrößern können.
Auch die vom Oberlandesgericht angeführte Begründung, das Kind habe seine Angabe, sich im Haushalt des Vaters wohler zu fühlen und zu diesem ein besseres Verhältnis zu haben, nicht näher begründen können, seine Angaben seien allgemein geblieben und ließen auch keine kindgerechte Schilderung einer engeren emotionalen Bindung zum Vater erkennen, reicht nicht aus, um den Kindeswillen anzuzweifeln. Denn zutreffend weist das Oberlandesgericht selbst darauf hin, dass von einem Kind im Alter des verfahrensbetroffenen Kindes keine bis ins Einzelne gehende Begründung erwartet werden könne. Genau dies aber fordert das Oberlandesgericht im Ergebnis von dem Jungen, ohne darzustellen, was ein elfjähriges Kind, das zum Ausdruck bringen und plausibel zu machen versucht, dass es lieber beim Vater leben will, denn noch mehr darlegen müsste als den Vertrauensverlust bezüglich der Mutter und ein etwas besseres Verhältnis zum Vater, das
– hierzu verhält sich das Oberlandesgericht nicht – auch durch Vater-Sohn-Aktivitäten (Fußball, Hertha-Spiele) geprägt sei. Gefühlsmäßige Bindung kann nicht immer – und wenn, dann nur teilweise – rational erfasst und begründet werden, weil sie – wie der Beschwerdeführer zu Recht ausführt – ein inneres Faktum ist.
Soweit das Oberlandesgericht darauf abstellt, der geäußerte Wunsch des Kindes, zum Vater zu ziehen, spiegele sich nicht in seinem alltäglichen Leben wider, da die schulischen Leistungen des Kindes keinen Anlass zur Sorge gäben, wenn auch das Kind sein Potential noch nicht ausgeschöpft habe, ist diese Einschätzung nicht belegt. Der als Zeuge vernommene Klassenlehrer des Kindes hat nämlich lediglich bekundet, nach seinem Eindruck handele es sich um einen „klugen Jungen mit einem guten Potential, der zur Zeit seine Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft“ habe. Demgegenüber hat der Verfahrenspfleger dem Gericht berichtet, das Kind habe ihm erzählt, es habe im Zeugnis der 5. Klasse in Geschichte eine Fünf, ansonsten mehrere Vierer und zwei Dreier – und damit unterdurchschnittliche Noten – gehabt. Es habe das Zeugnis selbst als nicht gut bezeichnet und als Grund dafür angegeben, es habe sich seit geraumer Zeit nicht mehr in W. wohl gefühlt. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, worauf das Oberlandesgericht seine Annahme stützt. Vielmehr wäre erforderlich gewesen, der Frage nachzugehen, ob und warum die schulischen Leistungen des Kindes nachgelassen haben, zumal es noch in der 4. Klasse als hochbegabt eingeschätzt worden war. Eine mögliche Erklärung, die das Oberlandesgericht hätte in Betracht ziehen müssen, wäre, dass es sich bereits negativ auf das Kind ausgewirkt hat, dass man sich seinem Wechselwunsch verschließt. Hierfür spricht, dass die Sachverständige schon vier Jahre vor der hier angegriffenen Entscheidung dem Kind eine hohe Verstandesreife attestiert und ausgeführt hatte, aufgrund des Alters des Kindes und seines sehr guten intellektuellen Entwicklungsstandes sei davon auszugehen, dass das Kind die Konsequenzen seiner Willensäußerung für die Zukunft überschauen könne. Ebenso sei für das Kind die Alternative – Leben in Berlin – inzwischen vorstellbar und einschätzbar. Somit müsse der Willensäußerung des Kindes besonderer Wert beigemessen werden. Die qualitativen Bedingungen, die an den Willen von Kindern gestellt werden müssten, seien erfüllt: ein klarer Wille, der keinen Zweifel lasse, ein konstanter Wille und ein nachvollziehbarer, verstehbarer Wille. In allen Familienrechtssachen gelte, dass es ein Wohl des Kindes gegen seinen Willen nicht gebe, wenn dieser Wille ausreichend formuliert werden könne und auf förderliche Bedingungen zurückgehe.
Dass der Willensäußerung eines Kindes in seiner Ausprägung als Ausdruck seiner mit zunehmendem Alter immer ernster zu nehmenden Selbstbestimmtheit jedenfalls dann hohes Gewicht bei der Frage zukommt, bei welchem Elternteil das Kind künftig lebt, wenn – was das Oberlandesgericht hier nicht in Frage stellt – das Kind diesen Wunsch nachvollziehbar und ohne festgestellte Beeinflussung äußert, hat das Oberlandesgericht ebenfalls nicht ausreichend gewürdigt. Der Wille des Kindes spielt bei ausreichender Verstandesreife gerade dann eine wichtige Rolle, wenn beide Eltern über annähernd gleiche Erziehungseignung verfügen. Soweit das Oberlandesgericht argumentiert, das alltägliche Leben des Kindes lasse nicht erkennen, dass es wegen seines nicht erfüllten Wunsches, zum Vater zu ziehen, resigniere oder eine Verweigerungshaltung einnehme, verkennt dies, dass der zu beachtende Wille eines Kindes nicht erst durch erkennbare erste psychische Schäden Bestätigung finden muss, um aus triftigen Kindeswohlgründen einen Wechsel des Kindes zum anderen Elternteil anzuordnen. Zudem weist der Beschwerdeführer zu Recht darauf hin, dass das Kind bis zur Endentscheidung des Oberlandesgerichts nicht unbedingt einen Grund zur Traurigkeit gehabt hat. Denn es könnte aufgrund der Entscheidung des Amtsgerichts und der Unterstützung seines Wunsches durch das Jugendamt und den Verfahrenspfleger davon ausgegangen sein, in Kürze zum Vater wechseln zu dürfen.
c) Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 30. Oktober 2007 beruht auch auf dem Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Oberlandesgericht dem Beschwerdeführer das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Sohn übertragen hätte, wenn es dem Willen des Kindes mehr Bedeutung beigemessen hätte.
d) Die Feststellung der Grundrechtsverletzung ergibt sich aus § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der angegriffene Beschluss ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Hierdurch wird zugleich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss vom 21. Dezember 2007 gegenstandslos.
3. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Hohmann-Dennhardt Gaier Kirchhof
BVerfG, Beschluss vom 27.06.2008
1 BvR 311/08