OLG Hamm: Einkommensfiktion auf 30 Wochenstunden

 

  1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Dortmund – Familiengericht – vom 13.11.2008 abgeändert und die Klage – unter Aufhebung des Versäumnisurteils vom 21.08.2008 – abgewiesen.
  2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger; mit Ausnahme der Kosten der Säumnis, diese trägt die Beklagte vorab.
  3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
  4. Der Streitwert für die Berufung wird auf 2.175 Euro festgesetzt.


Gründe

I.

Die Parteien sind seit 1991 verheiratet und leben seit November 2007 getrennt. Der Kläger macht gegenüber der am 14.01.1969 geborenen Beklagten Ansprüche auf Zahlung von Mindestunterhalt für das bei ihm lebende gemeinsame Kind X, geboren am 21.10.1992, beginnend ab März 2008 geltend. Das weitere gemeinsame Kind Y, geb. am 09.07.1997, lebt bei der Beklagten.

Die Beklagte war, nachdem sie nach dem Ende der Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten im Landesoberbergamt der Stadt Dortmund, die sie im August 2001 mit der Note ausreichend abschloss, nicht übernommen worden war, zunächst nicht mehr berufstätig. Von April 1995 bis August 1998 arbeitete sie als Reinigungskraft bei der Firma N in E mit einem Verdienst von 800 DM netto. Im Zeitraum von Februar 2001 bis März 2002 war sie im Umfang von 15 Stunden pro Woche als Kassiererin bei der Firma S im Rahmen einer Aushilfstätigkeit zu einem Stundenlohn von 5 Euro netto beschäftigt. Hieran schloss sich bis ins Jahr 2006 – gemeinsam mit dem Kläger – eine Tätigkeit als Gärtnerin für die Hausverwaltung C an. Hierbei nahm die Beklagte vornehmlich die gärtnerisch gestaltenden Arbeiten vor, während der Kläger die schweren Arbeiten – wie das Beseitigen des Gartenabfalls – übernahm. Die Parteien führten diese gärtnerische Tätigkeit, nachdem die Hausverwaltung den Vertrag nicht verlängert hatte, im Rahmen einer selbständigen Tätigkeit unter dem Namen der Beklagten fort. In diesem Zusammenhang erwarben sie auch ein größeres Fahrzeug vom Typ Opel Zafira nebst Anhänger. Im Zuge der Trennung veräußerte der Kläger den Anhänger und nutzte den Opel Zafira allein. Die Beklagte führte die Gartenarbeiten noch bis zum Ende der Verträge im November 2007 fort. Im Zeitraum von Februar bis zum Ende April 2008 absolvierte die Beklagte ein durch die ARGE vermitteltes Bewerbungstraining. Seit Juni 2008 ist die Beklagte bei der Fa. D für 15 – 18 Stunden wöchentlich mit einem Stundenlohn von 5,66 Euro im Rahmen eines Minijobs und monatlichen Einkünften in Höhe von 367,90 Euro beschäftigt. Die Entfernung zur Arbeitsstelle beträgt 6 Kilometer. Daneben erhält sie zur Sicherung des Lebensunterhalts – neben den Kosten für Unterkunft und Heizung – von der ARGE nach dem SGB II unter Berücksichtigung der erzielten Erwerbseinkünfte monatlich 199,57 Euro.

Das Amtsgericht hat die Beklagte zunächst durch Versäumnisurteil vom 21.08.2008 verurteilt, an den Kläger für das Kind X einen Rückstand für den Zeitraum von März 2008 bis einschließlich Mai 2008 in Höhe von 864,00 Euro und mit Wirkung ab Juni 2008 monatlich 288,00 Euro Kindesunterhalt zu zahlen, monatlich jeweils im voraus, bis spätestens zum 3. Kalendertag jeden Monats. Gegen das Versäumnisurteil hat die Beklagte fristgemäß Einspruch eingelegt.

Die Parteien haben zu dem Umfang der Erwerbsobliegenheit auf Seiten der Beklagten und dem Betreuungsaufwand für das Kind Y unterschiedliche Ansichten vertreten.

Das Amtsgericht hat das Versäumnisurteil – unter dessen Aufhebung und Klageabweisung im übrigen – insoweit aufrechterhalten, als die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger für das Kind X ab März 2008 einen monatlichen Kindesunterhalt in Höhe von 145,00 Euro zu zahlen. Das Amtsgericht ist von einer Obliegenheit der Beklagten zu einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit ausgegangen und hat ihr unter Ansatz von teilweise fiktiven Einnahmen ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 1.100 Euro angerechnet und dieses um 5% berufsbedingte Aufwendungen bereinigt. Wegen der Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil (Bl.115 – 121 d. A.) Bezug genommen.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Nach den übereinstimmenden Angaben der Parteien in der persönlichen Anhörung vor dem Senat besucht das Kind Y zur Zeit das fünfte Schuljahr einer Realschule. Dort ist im Zeitraum von Montags bis Donnerstags bei Kosten in Höhe von monatlich 40 Euro ohne Verpflegung eine Betreuung von 13.45 Uhr bis 15.45 Uhr möglich. Die Parteien haben das 1. Halbjahreszeugnis vorgelegt (Bl.191 d. A.). Die Leistungen sind in den Fächern Deutsch und Erdkunde „mangelhaft“, in den Fächern Religionslehre, Kunst, Mathematik und Physik „ausreichend“, in den Fächern Englisch, Textilgestaltung, Politik und Biologie „befriedigend“ und im Fach Sport „gut“. Die Mutter der Beklagten wohnt keine 2 Kilometer von der Beklagten entfernt. Sie ist 66 Jahre alt, kann nicht mehr gut gehen und erhält Pflegegeld. Sie befand sich im zweiten Halbjahr 2008 für ungefähr 6 Wochen im Krankenhaus. Die Kinder der Parteien halten sich nach der Schule unregelmäßig bei ihr auf. Die Beklagte holt das Kind Y oft um 14.00 Uhr nach ihrer Arbeit dort ab.

Die Beklagte ist weiterhin der Ansicht, nicht zu einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit verpflichtet zu sein, zumal andere Betreuungsmöglichkeiten nicht vorhanden seien. Auf Grund der schlechten Noten müsse sie jeden Tag etwa zwei Stunden bei den Hausarbeiten helfen. Selbst bei einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit könne sie als quasi ungelernte Kraft allenfalls 7,00 Euro brutto in der Stunde verdienen und damit keinesfalls mehr als monatlich 900 Euro netto. Die Chance eines Wiedereinstiegs in den erlernten Beruf oder als Bürokauffrau habe sie nach der langen Berufspause nicht. Nach der Trennung habe sie auch die selbständige Tätigkeit nicht weiterführen können, da sie die schweren Arbeiten nicht alleine habe erledigen können und ihr auch der Opel Zafira mit Anhänger nicht mehr zur Verfügung gestanden habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil unter Verweis auf eine vollschichtige Erwerbsobliegenheit der Beklagten. Die Beklagte habe auf Grund ihrer qualifizierten Ausbildung und der von ihr ausgeführten qualifizierten Tätigkeiten durchaus die Möglichkeit einen deutlich höheren Verdienst zu erzielen. Im Vergleich zu direkt als Bürokauffrau qualifizierten Mitbewerbern habe sie sogar den Wettbewerbsvorteil, dass sie als lediglich hierzu fortgebildete Kraft nicht die gleichen Gehaltsforderungen stellen könne wie die Mitbewerber, die von vornherein den Beruf der Bürokauffrau gelernt hätten. Zudem habe sie die selbständige Tätigkeit fortführen können.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Zahlung von Kindesunterhalt nach den §§ 1601 ff. BGB zu. Die Beklagte war in dem vom Rechtsstreit betroffenen Unterhaltszeitraum ab März 2008 bis heute nicht leistungsfähig.

1.) Die Beklagte verfügt über kein erzieltes oder erzielbares Erwerbseinkommen, welches zu einer Leistungsfähigkeit führen würde.

a.) Die Beklagte erzielt ausweislich der vorgelegten Gehaltsabrechnungen nur geringe Erwerbseinkünfte in Höhe von netto 367,90 Euro monatlich. Über weitere Einkünfte oder einzusetzende Vermögenswerte verfügt sie nicht.

b.) Eine Leistungsfähigkeit ergibt sich auch nicht über eine Einkommensfiktion. Nach Ziffer 9 der Hammer Leitlinien – Stand: 01.01.2008 – sind zum Einkommen zwar auch Einkünfte zu rechnen, die aufgrund einer unterhaltsrechtlichen Obliegenheit erzielt werden müssten, aber nicht erzielt werden. Insoweit ist im Hinblick auf die gesteigerte Unterhaltsverpflichtung des § 1603 Abs.2 S.1 u. S.2 BGB auch ein strenger Maßstab anzulegen, soweit es um die Sicherstellung des Unterhalts in Höhe des Regelbetrages für ein minderjähriges Kind geht. Der Beklagten sind aber auch hiernach aus einer fiktiven Erwerbsverpflichtung auf Grund einer unterhaltsrechtlichen Obliegenheit keine Einkünfte anzurechnen, die zu einer Leistungsfähigkeit führen.

aa.) Der Beklagten ist zur Zeit hinsichtlich des Umfangs nämlich allenfalls eine Tätigkeit von 30 Stunden in der Woche unterhaltsrechtlich zuzumuten. Dies ergibt die auf Grund der Rechtslage seit dem 01.01.2008 unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung.

aaa.) Eine maßgebliche Rolle spielt das Erfordernis der Versorgung des bei der Beklagten lebenden 11-jährigen Kindes Y, das sich im 5. Schuljahr befindet. Der Wechsel zur weiterführenden Schule hat also gerade erst stattgefunden. Dies hat zu einer erhöhten zeitlichen Beanspruchung der Beklagten geführt. Der Schulbeginn auf der weiterführenden Schule stellt sich vorliegend nämlich als äußerst problematisch dar. Das Zeugnis des 1. Halbjahres verdeutlicht, dass es zu erheblichen schulischen Defiziten und Schwierigkeiten gekommen ist, welche den von der Beklagten dargelegten besonderen Aufwand bei der Betreuung nachvollziehbar belegen. Neben den beiden mangelhaften Noten in den Fächern Deutsch und Erdkunde, sind auch in den allgemeinbekannt lernintensiven Fächern Mathematik und Physik die Noten nur einen Schritt hiervon entfernt. Die Zuverlässigkeit und das Sozialverhalten sind ebenfalls lediglich mit den Noten „befriedigend“ bewertet. Derartige Defizite können auch nicht alle durch die Übermittagsbetreuung aufgefangen werden. Aus dem Zeugnis ergibt sich vielmehr das Erfordernis einer intensiven Nachbereitung des Unterrichtsstoffes durch die Beklagte als betreuenden Elternteil.

bbb.) Bei der Bewältigung dieser Aufgaben ist die Beklagte weitgehend auf sich alleine gestellt.

Soweit ihre Mutter als nahe Angehörige teilweise das Kind nach der Schule versorgt, führt dies nicht zu einer erheblichen Entlastung der Beklagten. Hierbei sind zunächst die gesundheitlichen Beeinträchtigungen ihrer 66-jährigen Mutter zu berücksichtigen. Zudem zeigt der problematische Schulverlauf, dass in dieser Hinsicht die Einwirkung und Tätigkeit durch die Beklagte erforderlich sind. Soweit das Kind Y bis zur Abholung durch die Beklagte bei ihrer Mutter ist, kann letztlich nur eine Verwahrung stattfinden, die zudem nicht regelmäßig gewährleistet ist.

Eine Entlastung durch den Kläger kommt zur Zeit ebenfalls nicht in Betracht. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist deutlich geworden, dass die Parteien aufgrund des Trennungskonflikts jedenfalls zur Zeit noch nicht zu einem einvernehmlichen Handeln, wie es bei einer Kindesbetreuung durch beide Eltern nach deren Trennung erforderlich ist, in der Lage sind. Die Parteien haben sich mit wechselseitigen Vorwürfen in verschiedener Hinsicht – insbesondere auch hinsichtlich der Frage des Vorliegens von Erziehungsfehlern und der Frage der Verantwortung für die unzureichenden schulischen Leistungen beider Kinder – überzogen. Es ist nicht daran zu denken, dass in dieser Konstellation der zudem noch berufstätige und das ältere Kind versorgende Kläger die Beklagte erheblich unterstützen kann.

ccc.) Die Tätigkeit der Beklagten lässt auch nur in eingeschränktem Maß eine Flexibilität zu. Die Beklagte ist auf Grund ihres abhängigen Beschäftigungsverhältnisses auf feste Arbeitszeiten und – zwangsläufig – entweder Absprachen mit Arbeitskollegen oder Dienstpläne des Arbeitsgebers angewiesen. Auch den Beginn der Arbeitszeit kann sie nicht frei wählen, da dieser von den jeweiligen Öffnungszeiten im Einzelhandel abhängig ist. Ab 16.00 Uhr muss sie aber bereits wieder zur Versorgung des Kindes Y zur Verfügung stehen, um allein die schulische Nachbetreuung (Hausaufgabenkontrolle und Nacharbeit) vor dem Abend noch bewerkstelligen zu können.

bb.) Aus der hiernach allenfalls in Betracht kommenden Berufstätigkeit von etwa 30 Wochenstunden, kann die Beklagte aber keine Einkünfte erzielen, die den gegenüber ihrem Kind bestehenden notwendigen Selbstbehalt von dann 900 Euro übersteigen. Ein Stundenlohn von mehr als 8 Euro ist für die Beklagte nämlich nicht realisierbar. Zur Zeit besteht lediglich als ungelernte Arbeitskraft eine realistische Beschäftigungschance. Bei einer anzusetzenden Arbeitszeit von durchschnittlich 130 Stunden und dem sich hieraus ergebendem Bruttoeinkommen von allenfalls 1.040,00 Euro, verbleibt nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben ein Betrag von netto um 820 Euro im Jahr 2008 und um 825 Euro im Jahr 2009, was sich unter Nutzung eines Brutto-Netto-Rechners (Steuerklasse 2 / 1 Kinderfreibetrag) ermitteln lässt.

Entgegen der Ansicht des Klägers sind bessere Verdienstmöglichkeiten – jedenfalls zur Zeit – nicht eröffnet.

aaa.) Ein Wiedereinstieg der Beklagten auf dem Arbeitsmarkt in einer Verwaltungs- oder Bürotätigkeit ist unrealistisch. Die Ausbildung der Beklagten war bereits 1991 beendet. Gearbeitet hat sie bisher in keinem der beiden Berufszweige. Die Ausbildung lag zum Zeitpunkt der Trennung im November 2007 bereits mehr als 16 Jahre zurück. Ohne berufliche Qualifikation hat die Beklagte in diesen Bereichen praktisch keine Chance. Der Hinweis des Klägers auf weitergehende Qualifikationsmaßnahmen als Obliegenheiten greift zur Zeit bereits deshalb nicht, da derartige Maßnamen erst einmal zeitlich durchlaufen werden müssten. Zudem hält der Senat die Einschätzung des Klägers, wonach die Beklagte als „Seiteneinsteigerin im Beruf der Bürokauffrau“ ohnehin nur ein niedrigeres Gehalt erzielen könnte, durchaus für realistisch, da sie eben nicht über einschlägige Berufserfahrung und einen lückenlosen Werdegang verfügt.

bbb.) Die selbständige (Neben-)Tätigkeit der Beklagten hingegen hat sich zu keiner Zeit als tragfähig erwiesen. Diesem Betätigungsfeld war zudem durch die Trennung der Parteien die Grundlage in mehrfacher Hinsicht entzogen. Zum einen war die aktive Mitwirkung des Klägers wesentlicher Bestandteil dieser Tätigkeit auf Grund des Erfordernisses, die anfallenden körperlich belastenden Arbeiten bewältigen zu können. Dies haben die Parteien nachvollziehbar in ihrer persönlichen Anhörung vor dem Senat ausgeführt. Zum anderen stand ihr das größere Fahrzeug nebst Anhänger – welches gerade für die Nebentätigkeit angeschafft worden und hierzu auch erforderlich war – im Zuge der Trennung nicht mehr zur Verfügung. Es ist nachvollziehbar und lebensnah, dass die Beklagte unter Einschaltung von Bekannten gerade noch die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen bis November 2007 erfüllen konnte, mehr aber auch nicht. Bei diesem Sachverhalt kann von einem „fahrlässigen Herunterwirtschaften“ nicht die Rede sein.

2.) Eine Leistungsfähigkeit der Beklagten ergibt sich auch nicht auf Grund der Möglichkeit des begrenzten anrechnungsfreien Erwerbs nach § 11 Abs.2 S.2 SGB II in Verbindung mit § 30 Nr.1 SGB II.

Durch ihren Nebenverdienst im Rahmen eines sogenannten Minijobs erzielte die Beklagte zwar seit Juni 2008 Einkünfte in Höhe von monatlich netto 367,90 Euro. In Höhe von maximal 160 Euro stehen etwaig erzielte Einkünfte nach § 11 Abs.2 S.2 SGB II (100 Euro) und § 30 Nr.1 SGB II (20% von 300 Euro) hieraus anrechnungsfrei zur Verfügung. Entsprechend hat die ARGE auch 153,58 Euro auf Grund der tatsächlichen Einnahmen aus dem Minijob anrechnungsfrei berücksichtigt. Auch dadurch ergibt sich aber keine – auch nur teilweise – Leistungsfähigkeit der Beklagten:

a.) Der notwendige Selbstbehalt der Beklagten beträgt ohne den für sie selbst und den bei ihr lebenden Sohn Y durch Leistungen nach dem SGB II gedeckten Wohnbedarf 475 Euro. Eine Herabsetzung des Selbstbehalts ist – unter Berücksichtigung des Existenzminimums nach sozialhilferechtlichen Grundsätzen -grundsätzlich zulässig (BGH in FamRZ 2008, 594 ff. [zitiert nach juris Rn.33 ff.]). Hierbei ist zunächst der ihr nach Ziffer 21.2. der Hammer Leitlinien – Stand: 01.01.2008 – zustehende notwendige Selbstbehalt mit 835 Euro zu bemessen. Auf Grund ihrer nur eingeschränkten Erwerbstätigkeit ist der Mittelwert zwischen 770 Euro (notwendiger Selbstbehalt ohne Erwerbstätigkeit) und 900 Euro (notwendiger Selbstbehalt mit Erwerbstätigkeit) anzusetzen. Hierbei ist berücksichtigt, dass auch bei einer geringeren Stundenzahl die mit der Berufstätigkeit im Zusammenhang stehenden Grundaufwendungen anfallen. Da die mit 360 Euro nach Ziffer 21.1. der Hammer Leitlinien in dem notwendigen Selbstbehalt enthaltenen Wohnkosten durch die erhaltenen Leistungen nach dem SGB II gedeckt sind, ist dieser Betrag vom Selbstbehalt abzusetzen, so dass 475 Euro verbleiben.

b.) Demgegenüber belaufen sich die bereinigten erzielten Einkünfte der Beklagten auf allenfalls 477,87 Euro.

aa.) Die Beklagte erzielt Einkünfte in Höhe von insgesamt 567,47 Euro. Diese setzen sich aus den Erwerbseinkünften in Höhe von 367,90 Euro und den Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 199,57 Euro zusammen.

bb.) Hiervon in Abzug zu bringen sind die geltend gemachten Aufwendungen mit insgesamt 89,60 Euro.

Es sind nämlich die anfallenden Fahrtkosten in Höhe von 39,60 Euro nach Ziffer 10.2.2. der Hammer Leitlinien – Stand: 01.01.2008 – für die 6 Kilometer bis zur Arbeitsstelle zu berücksichtigen. Hierbei geht der Senat von durchschnittlich 3 Arbeitstagen – also jährlich 132 Arbeitstagen (220 Tage / 5 x 3) – in der Woche aus, da die Beklagte zwischen 15 und 18 Stunden in der Woche arbeitet (6 x 2 x 0,3 x 132 / 12).

Weiterhin sind die 50 Euro an monatlichen Raten zu berücksichtigen, welche die Beklagte an die Commerzbank erbringt. Diese Raten sind entgegen dem Regelfall der Ziffer 10.4.2. der Hammer Leitlinien – Stand: 01.01.2008 – mit dem Tilgungs- und Zinsanteil zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung der Herkunft dieser überschaubaren Schulden in Höhe von insgesamt noch 1.083,80 Euro entsprechend der vorgelegten Rückzahlungsvereinbarung mit der Volksbank vom 11.07.2008 (Bl.54 d. A.), ist deren Rückführung durch die Beklagte nämlich für beide Parteien wirtschaftlich äußerst sinnvoll, um die erhebliche Zinsbelastung auf Grund dieser geringen Verbindlichkeit von zuletzt 17,25% – monatlich über 15 Euro – möglichst zügig beseitigen zu können. Nach dem unstreitigen Vortrag tilgt die Beklagte diese aus der fehlgeschlagenen Selbständigkeit herrührenden Verbindlichkeiten des früheren Geschäftskontos trotz ihrer wirtschaftlich engen Verhältnisse. Diese Verbindlichkeit beruht auf dem Versuch der Parteien, sich einen Nebenverdienst aufzubauen. Dies ist letztlich an der Trennung der Parteien gescheitert, was oben bereits ausgeführt worden ist. Unerheblich ist hierbei, ob ein Teil dieser Summe – wie von der Beklagten behauptet und vom Kläger bestritten – aus eigenmächtigen Abhebungen des Klägers herrührt.

c.) Damit verblieben zwar monatlich 2,87 Euro, die rechnerisch für Unterhaltszwecke zur Verfügung stehen würden. Das Ausurteilen eines derart geringen Betrags entspricht aber nicht der Billigkeit.

3.) Die Beklagte kann auch nicht auf Grund der Vorschrift des § 11 Abs.2 S.1 Nr.7 SGB II weitere anrechnungsfreie Einnahmen erzielen, die zu einer höheren Leistungsfähigkeit bis hin zum Regelunterhalt führen könnten.

Soweit teilweise die Ansicht vertreten wird, dass über die oben genannten anrechnungsfreien Einkünfte hinaus, das zur Erfüllung der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 BGB eingesetzte Einkommen eines unterhaltspflichtigen Arbeitslosengeld- II-Empfängers aus einer Nebentätigkeit gemäß § 11 Abs.2 S.1 Nr.7 SBG II anrechnungsfrei bleibt (so ausdrücklich: OLG Hamm, 8 UF 90/07, Beschluss vom 30.07.2007 [zitiert nach juris Rn.4]; OLG Brandenburg, 9 UF 58/07, Urteil vom 01.11.2007, in ZFE 2008, 69 f. [zitiert nach juris Rn.25 f.]; OLG Brandenburg, 9 UF 157/07, Urteil vom 07.02.2008, in FamRZ 2008, S.2304 ff. [zitiert nach juris Rn.37]; OLG Brandenburg, 13 UF 6/07, Beschluss vom 08.02.2008, in NJW 2008, 3366 ff. [zitiert nach juris Rn.9]; OLG Brandenburg, 9 UF 16/08, Beschluss vom 03.03.2008, in NJW-RR 2009, 150 f. [zitiert nach juris Rn.17]; Hoppenz/Hülsmann, Der reformierte Unterhalt, § 1603 BGB, Rn.27) folgt der Senat dem – entgegen seiner bisherigen Rechtsprechung – nicht. Eine derartige Auslegung der Vorschrift ist unter mehreren Gesichtspunkten nicht angezeigt:

a.) Hinsichtlich der Entstehungsgeschichte des § 11 Abs.2 S.1 Nr.7 SGB II ist zu berücksichtigen, dass durch die Einführung dieser Vorschrift zum 01.08.2006 keine eigentliche Neuregelung im Sinne einer Ausweitung der anrechnungsfrei erzielbaren Einnahmen über die geltenden Freibeträge hinaus erfolgt ist. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und die ständige Verwaltungspraxis sind lediglich gesetzlich übernommen worden (zur alten Rechtslage unter Hinweis auf Ziffer 11.5 der damaligen internen Anordnungen der Bundesagentur für Arbeit mit weiteren Nachweisen auf die sozialrechtliche Rechtsprechung: OLG Koblenz, 7 WF 107/06, Beschluss vom 06.02.2006, FamRZ 2006, 297 f. [zitiert nach juris Rn.4]; OLG Brandenburg, 10 UF 151/06, Urteil vom 20.02.2007 [zitiert nach juris Rn. 28]; OLG Brandenburg, 9 UF 238/05, Beschluss vom 18.05.2006, in FamRZ 2006, S.1297 ff. [zitiert nach juris Rn.34]).

b.) Auch der Sinn und Zweck der Regelung steht dem entgegen, da eine Ausweitung der bestehenden Möglichkeiten eines anrechungsfreien Erzielens von Einnahmen vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt war. Dem Regelungsinhalt der Vorschrift liegt vielmehr der im Sozialrecht zutreffende Gedanke zu Grunde, dass titulierte Unterhaltsansprüche bereits auf Grund der Möglichkeit einer jederzeitigen Pfändung dem Empfänger von Sozialleistungen nicht als bereites Einkommen zur Verfügung stehen. Dies wird im zu Grunde liegenden Gesetzentwurf vom 09.05.2006 – Drucksache 16/1410, dort auf Seite 52 – ausdrücklich näher ausgeführt und dargelegt. Anders ausgedrückt akzeptiert das Sozialrecht lediglich, dass derartige Titel (vorübergehend) noch vorliegen können. Dies ist z.B. immer dann denkbar, wenn ein Titel vorliegt, der noch auf der Grundlage zwischenzeitlich überholter Einkommensverhältnisse ergangen ist. In Konsequenz hiervon sieht die im Internet veröffentliche einschlägige Weisung zur Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (AlgII-V) vom 18.12.2008 in Ziffer 11.89 ausdrücklich vor, dass – soweit der Unterhaltspflichtige durch die Absetzung der Unterhaltsbeträge selbst hilfebedürftig wird – dieser aufzufordern ist, im Rahmen seiner Selbsthilfemöglichkeiten einen Antrag auf Abänderung des in der Regel noch unter anderen Bedingungen ergangenen Unterhaltstitels zu stellen. Anderenfalls würde letztlich der Unterhalt mittelbar aus dem Sozialeinkommen finanziert, ohne dass geprüft werden könnte, ob der Empfänger von Sozialleistungen nach sozialrechtlichen Grundsätzen überhaupt als bedürftig anzusehen wäre (zum Ganzen eingehend: Schürmann in ZFE 2008, S.57 f.).

c.) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass eine allein auf den Wortlaut des § 11 Abs.2 S. 1 Nr. 7 SGB II abstellende Auffassung dazu führen würde, dass abhängig von dem jeweiligen Prozessverlauf – ohne Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse -Ansprüche geschaffen werden könnten. Sieht man nämlich als „tituliert“ im Sinne dieser Vorschrift auch einen durch ein erstinstanzliches Gericht noch nicht rechtskräftig zuerkannten Unterhaltsanspruch an (so ausdrücklich: OLG Brandenburg, 13 UF 6/07, Beschluss vom 08.02.2008, a. a. O.; OLG Hamm, 8 UF 90/07, Beschluss vom 30.07.2007, a. a. O.), so würde dies dazu führen, dass dieses Urteil bereits dauerhafte Rechtsfolgen hervorrufen würde, obwohl der Rechtsmittelinstanz die Überprüfung vorbehalten ist. Ein solches Ergebnis wäre nur dann gerechtfertigt, wenn im Falle der Möglichkeit der Erzielung von Einkünften neben dem Bezug von Arbeitslosengeld eine Obliegenheit des Unterhaltsschuldners bestünde, eine Kindesunterhaltsverpflichtung z.B. durch eine notarielle Urkunde oder in einer Jugendamtsurkunde – ggfs. sogar vorprozessual – titulieren zu lassen (so ausdrücklich : OLG Brandenburg, 9 UF 157/07, Urteil vom 07.02.2008, a. a. O.). Eine derartige Obliegenheit kann indes nicht angenommen werden, da der Unterhaltsschuldner im Streitfall Anspruch darauf hat, die Höhe seiner Unterhaltspflicht im konkreten Einzelfall gerichtlich klären und feststellen zu lassen (Reinken in FPR 2007, 352 ff. [354]).

4.) Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91 Abs.1, 344 ZPO. Die Entscheidung zur Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Der Streitwert setzt sich aus den Rückständen mit 435 Euro und dem Jahreswert des laufenden Unterhalts mit 1.740 Euro zusammen.

OLG Hamm, Urteil vom 28.04.2009
13 UF 2/09

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